Tino Sehgal – MdbK Leipzig
Raum- und Selbstbeobachtungen beim Besuch der Konstruierten Situationen von Tino Sehgal
Nadine Kesting Jiménez, Simon Malinowsky, Annette Menting und Elisa Merino Vazquez
14.04.2022
Ein Treffen um 18 Uhr vor und in dem Museum. Eine kleine Gruppe entsteht, wir streifen durch die Konstruierten Situationen von Tino Sehgal am 6. April 2022, dem Eröffnungsabend seiner Ausstellung im Museum der Bildenden Künste Leipzig. Wir kommen unvorbereitet, lassen uns auf die Situationen ein und erfahren den uns bekannten Ort ungewohnt.
S: Beim Betreten des MdbK hatte ich zuerst den Eindruck, dass die Stimmen der Akteur:innen mit der Akustik des Raums wie Kinder experimentierten und spielten. Nach einer Weile erkannte ich ihre Professionalität und ihre Interaktion, die mit der Anordnung von Sitzplätzen, Publikum und der Statue im Raum inszeniert wurde. Themen Beethovens wurden fragmentarisch in das Gurren, Trällern und Zerren der Laute eingewoben und unter Einwirkung choreografischer Handlungen neu interpretiert.
N: Der Schwellenraum ist Vermittler, mit dem Durchschreiten wird diese Setzung zwischen den Räumen wahrgenommen. Es erklingen Stimmen ganz leise – mal Melodie, mal Geräusch, – die uns zum Halten bringen. Dieser Transitraum wandelt sich in einen Ort zum Verweilen, zum Zuschauen und Hören.
A: Die Eingangshalle ist nicht wie üblich der Passagenraum, den wir durchqueren, um zu Kasse, Garderobenschränken und Ausstellung zu kommen. Sie wird Ort des Anhaltens und Erlebens: Stimmenklang, Raumhöhe, Hall der stark klangreflektierenden Raummaterialität. Besucher treten ein, viele durchqueren zielgerichtet den Raum, manche lassen sich auf die teilweise leise, zurückhaltende Situation ein. Der große sitzende Beethoven von Klinger ist hier seit Anfang des Jahres installiert, sonst ist der Raum fast leer. Die Stimmklänge wandeln sich, zwischenzeitlich entwickelt sich ein Ode-an-die Freude-Motiv und geht wieder in ein hohes und tiefes Summen und Töne-Singen über. Der Museumsdirektor spricht zur Eröffnung und begrüßt Tino Sehgal. Die Stimmklänge setzen wieder ein, wir gehen weiter.
E: Die Performer:innen verbergen sich zwischen dem Publikum und kein Schild gibt Informationen zu dem Geschehen. Plötzlich fangen sie an und transformieren die Räume. Sie verbinden die Durchgangsorte des Museums und fordern die Besucher auf, sich gegenseitig zu beobachten.
A: Auf der Terrasse im ersten Obergeschoss sehen wir zwei Küssende, die mit ihrer Aufführung den Verhaltenskodex im Museum aufbrechen, denn hier küsst und umarmt man sich sonst nicht, stehend, kniend oder liegend. Warum eigentlich nicht? Nach einer Weile ziehen wir weiter durch die Ausstellungskabinette: Malerei des 19. Jahrhunderts. Als wir wieder zurückkommen, scheint es, dass Situationen aufgeführt werden, die wir gerade auf den Bildern gesehen haben. Die verstreut aufgestellten kleinen Skulpturen erscheinen wie Momentaufnahmen der beiden Aufführenden.
S: Eine Etage höher, auf dem Zwischenpodest, bewegte sich eng umschlungen ein Liebespaar in Zeitlupe. Ihr Wechselspiel passte gut zu den romantischen Werken, die in den folgenden Räumen zu sehen waren.
A: In einer der Loggien im zweiten Obergeschoss erwarten wir eine Konstruierte Situation. „Wir dürfen hier machen, was wir wollen, auch schreien.“ Eine Gruppe von Kindern rennt und springt in diesem Riesenraum, der ganz leer ist (eine temporäre Installation von Chiharu Shiota wurde vor wenigen Tagen erst demontiert) und an dessen Wände die gar nicht so lauten Kinderschreie widerhallen. Wie bewegen und verhalten sich Kinder in Museumsräumen?
N: Die kleinen Interaktionen der Performer:innen eröffnen neue Perspektiven: Sie arbeiten mit Bewegung, Tanz, Rhythmus, mit Gesprächen, Geräuschen, Gesang und mit körperlicher Nähe und Distanz. Die untypischen Situationen, die wir in den verschiedenen Schwellenräumen des Museums vorfinden, spielen mit dem Konstrukt dieses Ortes auf allen Ebenen und eröffnen so eine Reinterpretation von genau diesem Ort.
A: Hinter einer Wand findet eine Gesprächssituation statt. Durch eine schmale Öffnung treten wir ein, eine bewusste Entscheidung - anders als an den anderen Orten, an denen man den Aufführungen zufälliger begegnet. Es fällt leicht durch die Aufführung zu gehen, um einzutreten oder anderen Besucher:innen Platz zu machen. Unmerklich befinde ich mich zwischen rund 20 Zuschauenden und in unmittelbarer Nähe der Aufführenden. In Intervallen bewegen sie sich durch den Raum, parallel zum Kommen und Gehen der Zuschauenden, und unterstützen auch dadurch eine Vermischung der Gruppen. Bin ich noch Beobachtende oder Teil der Gesprächssituation? Das Masketragen unterscheidet die Besucher:innen von den fünf oder sechs Gesprächsführenden; ein Besucher nimmt die Maske herunter und antwortet auf eine der Fragen zur Entbehrlichkeit von Reiskochern.
S: Eindrucksvoll war die abschließende Aktion: Über die Etagen des Gebäudes verteilt, füllten mehrere Akteur:innen, für mich nicht nachvollziehbar in ihrer Zahl, die Räume mit ihren Stimmen. Die Atmosphäre hatte etwas Filmisches, Sakrales – fühlte sich gleichzeitig beruhigend, aber auch wie die Vorankündigung von übergeordneten Geschehnisse an.
A: Auf der andere Seite der Wand sind plötzlich Töne zu hören, die uns bereits im Eingangshof begegnet sind. Die Gesprächssituation löst sich auf. Wir folgen den Stimmen und stehen nur wenige Meter weiter neben den Sänger:innen. Allmählich entwickeln sich Klänge auf verschiedenen Ebenen in diesen hohen und doppelthohen Räumen: Das Museum hat einen kathedralenhaften Klang. Über die hohe Brüstung gelehnt, schauen wir auf einen tieferliegenden Aufführungsort: eine Bühne, Publikum ist auch in den anderen Loggien zu sehen. Die Raumbeziehungen und die außerordentlichen Dimensionen des Raums werden intensiv erlebbar. Das Haus durchwandeln wir in gemäßigtem Tempo. Der Besuch braucht seine Zeit und wir haben einen ruhigeren Rhythmus entwickelt. Irgendwann verlasse ich die kleine Gruppe und die Situationen.