Abstract
Wer weiß, wie man ein zeitgenössisches Theater oder ein Theater für morgen baut?
Vom Auszug aus den Theaterhäusern an brachliegende Orte
Annette Menting
Peter Brook stellte die Frage, wer denn wisse, wie man ein zeitgenössisches Theater oder ein Theater für morgen baut und bereits Ende der 1960er-Jahre empfahl der Theaterregisseur die Nutzung von vorgefundenen Orten. Ausgehend von den adaptierten, geplanten und umgebauten Räumen der Berliner Schaubühne wird die historische Entwicklung vom Auszug aus den Theaterhäusern an brachliegende, nicht-theaterspezifische Orte beschrieben. Nach der Nutzung eines Kreuzberger Vortragssaals wurde das ehemalige Universum-Kino am Lehniner Platz zur neuen Spielstätte der Schaubühne (1975-1980), einer der wenigen erhaltenen Bauten von Erich Mendelsohn. In der Projektentwicklung erschienen die Interessen von Theaterleuten, Denkmalpflege und Stadtplanung gut vereinbar, in der Realisierung des Hauses als variables „Theater der Zukunft“ kam es jedoch zu unerwarteten Entwicklungen. Mit dieser paradigmatischen Raumsuche und -gestaltung wird dargestellt wie aufgrund neuer Aufführungskonzepte die Typologien, Funktionalitäten sowie der Ausdruck des Theaterbaus transformiert und erweitert wurden und sich die Nutzungen von Bestandsbauten als neue Spielstätten allmählich etablierten. Einzelne Pionierprojekte haben dazu beigetragen, dass brachliegende Orte der Industriekultur, Technikbauten und Gebrauchsarchitekturen umgenutzt und damit erhalten wurden. Aus dem Berliner Fallbeispiel lassen sich Fragestellungen ableiten, die für aktuelle Projekte relevant sind: Wie werden vorgefundene Räume von Seiten der Aufführung und der Architektur verhandelt? Welche Bedeutung haben vorgefundene Orte für die Szenografie sowohl in der Entstehungszeit als auch in der gegenwärtigen Bespielung? Der Beitrag beschäftigt sich mit Aspekten eines noch ausstehenden Diskurses zur jüngeren Theaterarchitektur - insbesondere zu Umbau- und Transformationsprozessen - und bezieht sich auf divergierende Betrachtungsweisen von Theatermacher*innen, Architekt*innen, Urbanist*innen und Denkmalpfleger*innen.
Annette Menting ist Architekturhistorikerin und -kritikerin. Nach dem Architekturstudium an der Universität der Künste Berlin war sie in Berliner Architekturbüros tätig, promovierte und publizierte zur Architektur der Moderne. Sie ist Professorin für Architekturgeschichte und Baukultur an der HTWK Leipzig seit 2000. Forschungsschwerpunkte sind die Architekturgeschichte der Moderne, Denkmalpflege und zeitgenössische Baukultur. Gemeinsam mit Barbara Büscher leitet sie seit 2016/2017 das transdisziplinäre DFG-Forschungsprojekt „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“. / theaterraum.htwk-leipzig.de
Abstract
Theater/Performance/Tanztheater als Formate von Raumerkundungen
Amelie Deuflhard
Temporäre Räume, Frei- und Zwischenräume und vor allem umgenutzte Räume sind aus meiner Sicht ideale Ausgangspunkte für das Schaffen von künstlerischer Innovation - ihre kontinuierliche Bespielung in den letzten beiden Jahrzehnten ist ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Biografie. Im Vortrag zeichne ich die Entwicklung der Aneignung ebendieser Räume durch Performancekunst und ihre Bedeutung, sowohl für künstlerische als auch für urbane Prozesse nach. Exemplarisch dafür sind die Zwischennutzungen im Berlin der Nachwendezeit, die wesentlich zum Erblühen der Stadt als eine der führenden Kunstmetropolen beigetragen haben. Die Kunstwerke und die Sophiensaele stehen heute noch für diese Entwicklung. Die künstlerische Zwischennutzung des dekonstruierten Palastes der Republik als Volkspalast 2004/2005 brachte die Künstler*innen die durch Zwischennutzungen groß geworden waren auf die damals zentralste Bühne der Stadt und verwies nicht nur auf die Bedeutung des wichtigsten inzwischen zerstörten sozialistische Gebäudes Deutschlands sondern auch auf das damals aktuelle Kunstschaffen, das in eben jenen Räumen entstanden war.
Kampnagel, eine ehemalige Kranfabrik, ist einer dieser Orte die bereits Anfang der 80ger zunächst zwischengenutzt wurden und sich in fast 10jähriger Auseinandersetzung mit der Stadt durchsetzte. Ein Ort, der anfangs Sammelbecken unterschiedlicher internationaler künstlerischer Aufbruchsbewegungen war. Ein zweifaches Denkmal: denn Kampnagel ist nicht nur Industriedenkmal sondern auch Denkmal für den Auszug innovativer Theatermacher*innen von Stadttheatern in Fabrikhallen oder andere Leerstände. Die flexible künstlerische Nutzung der Hallen als Theaterbühne, Konzerthaus, Tanzsaal, Vorlesungssaal, Kongresshalle, Lounge, Club, Casino oder Festsaal wäre in klassischen Theaterräumen unmöglich. Ebenso die Erfindung des sogenannten postdramtischen oder Dokumentar-Theaters und anderen neuen Formen, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Diese zunächst relativ unregulierten Orte sind zu den neuen Tempeln der Kunstproduktion geworden – gesellschaftskritisch, international, glokal, interdisziplinär.
Diese Entwicklungen zu sehen und Orte wie Kampnagel als ebenso wichtig wie klassische Institutionen anzuerkennen war und ist ein langer Prozess. Dass für Kampnagel fast zeitgleich die strukturelle Umwandlung zum Staatstheater und eine umfassende Sanierung beschlossen wurde, lässt sich als Zeichen seines Erfolges lesen.
Amelie Deuflhard ist seit 2007 Intendantin von Kampnagel, der größten freien Bühne für internationale Performing Arts in Deutschland. Zuvor war sie künstlerische Leiterin der Sophiensæle und vom Volkspalast in Berlin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich u.a. mit der Wechselwirkung zwischen Kunst, Kulturproduktion und Stadt sowie mit Fragen der Diversität, Dekolonisierung und Inklusion. Sie hat Kampnagel in einen Ort der Begegnung verwandelt, der internationale künstlerische Perspektiven in einen kontinuierlichen Austausch mit Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, lokalen Künstler*innen und diversen Stadtgesellschaften bringt.
Abstract
Spiele in der unsichtbaren Stadt
Carolin Höfler
Nehmen Theatergruppen neue Spielräume außerhalb repräsentativer Theaterbauten ein, wird unweigerlich der Zusammenhang von Theater, Öffentlichkeit und Stadt berührt, der »zur Grundausstattung des neuzeitlichen, städtischen Selbstbewusstseins« gehört (Ulrike Haß, 2021). Aufführungen finden dann in ehemaligen Industriehallen, Hangars, Postgebäuden, Bürohäusern oder U-Bahnhöfen statt. Die Umnutzungen solcher Bauten hängen eng mit den Veränderungen der sozialräumlichen Ordnungen zusammen, die seit den 1960er Jahren zu beobachten sind. Weltweit werden Städte im Zuge der Globalisierung an die Anforderungen der Märkte angepasst. Primär renditeorientierte Bauten dominieren die städtische Architektur, lenken die Aufmerksamkeit auf sich und beanspruchen Deutungshoheit. Durch sie werden vermarktbare Stadtbilder erzeugt, die in einem medialen Bildkreislauf – einer »Industrie des Sichtbaren« – erfolgreich zirkulieren.
In der sichtbaren Stadt zerfallen die öffentlichen Räume in privatisierte Passagen abgestufter Öffentlichkeit und in logistische Infrastrukturen. Herkömmliche Unterscheidungen zwischen innen und außen, privatem und öffentlichem Raum lösen sich auf, was Folgen für die Stadt und das Theater hat. Wenn die sichtbare Stadt mit individuellen Kommunikations- und Serviceangeboten auf den Einzelnen zielt und immer weniger ein Ort des Gemeinschaffens darstellt, welche Öffentlichkeit kann dann Theater schaffen? Welche Auswirkungen haben die Mediatisierung des kommunikativen Handelns und die Zirkulation von Menschen, Dingen und Technologien für den Stadtraum, für die politische, öffentliche Sphäre und für das Theater? Und welche Räume kann das Theater in diesen Wandlungsprozessen einnehmen?
Es sind vor allem jene Räume, die verdeckt sind, übersehen werden oder sich bewusst dem Blick entziehen. Sie werden vorzugsweise von engagierten Initiativen und informellen Gruppen aufgesucht, temporär gestaltet und bespielt, um sie in Gegenorte städtischer Ordnung zu verwandeln. Ihren Aktivitäten liegt eine Auffassung von Stadt zugrunde, die über die sichtbaren, objekt- und bildhaften Eigenschaften der Architektur hinausweist. In den Mittelpunkt rückt vielmehr die Stadt als performativer Raum, in dem verschiedene Mitspieler:innen agieren und sich differente Situationen entfalten. Es sind diese eigeninitiierten, selbstorganisierten und spielerischen Stadtnutzungen, in denen sich Widerstände zum globalen Umbau der Städte äußern. Das Theater in diesen Räumen artikuliert den Wunsch nach einem gesellschaftlichen Recht auf jene urbanen Qualitäten, die in der Begegnung, im Austausch und in einem kollektiv gestalteten und genutzten städtischen Raum liegen. Im Zuge eines ökologischen und technologischen Strukturwandels könnten diese kreativen Raumaneignungen schon bald zum zentralen Moment einer zukünftigen Stadtproduktion werden.
Carolin Höfler ist Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der TH Köln, wo sie seit 2018 die Forschungsstelle „Echtzeitstadt“ leitet. Sie studierte Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft (Magister) sowie Architektur (TU Diplom) an den Universitäten in Köln, Wien und Berlin. 2009 wurde sie am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Ihr Forschungsinteresse gilt Praktiken, Konzepten und Medien in Architektur und Design, Raum-Zeit-Modellen und dem ephemeren Urbanismus.