AUFBRUCH
Die Postkarte zeigt das ehemalige Hauptgebäude der Karl-Marx-Universität Leipzig, das 1971 am südwestlichen Rand des Karl-Marx-Platzes entstand. Der Betrachter blickt entlang der sechsgeschossigen Fassade bis zum Universitäts-Hochhaus, das ein integraler Bestandteil des innerstädtischen Campus war und nicht nur das markanteste Gebäude des Universitäts-Ensembles war, sondern auch des Stadtzentrums. Die historischen Bauten der Universität - die unversehrte Universitätskirche St. Pauli, das teilkriegsbeschädigte Augusteum, Albertinum und Johanneum - waren nicht erhalten bzw. wiederaufgebaut worden, sondern zugunsten des Neubaukomplexes 1968 gesprengt. In der Bildmitte sieht man das Bronze-Relief „Aufbruch“ über dem Haupteingang, das 1974 installiert wurde und damit einen bildnerisch-thematischen Akzent genau an der Stelle setzte, an der zuvor die Paulinerkirche gestanden hatte. Bei Betrachtung der Postkarte fällt die durch Stützen stark aufgelöste Erdgeschosszone des Hauptgebäudes auf. Der Innenraum der Universität öffnete sich großzügig zum Platz und schuf in seiner Transparenz und Offenheit eine Verbindung zum städtischen Innenhof, der als öffentlicher Raum der Ruhe und Begegnung gestaltet war.
Die Foto-Serie nähert sich dem Ort, der auf der Postkarte dargestellt ist, aber in dieser Form seit 2007 nicht mehr existiert. Eines der wiederkehrenden Motive ist die starke Präsenz des Hochhauses. Weder das Hauptgebäude noch das Relief sind heute noch am Standort zu finden, lediglich das Hochhaus steht nach wie vor am Platz, das inzwischen nicht mehr zur Universität gehört. Anlässlich des 600-jährigen Jubiläums der Universität 2009 sollte der alte Campus im Zuge einer Neu- und Umgestaltung zu einem zukunftsorientierten Campus entwickelt werden. Anstelle des Hauptgebäudes aus den 1970er-Jahren entstand ein Neubau, der von Erick von Eggerat mit konkret-bildhaftem Verweis auf die ehemalige Paulinerkirche entworfen und bis 2017 fertiggestellt wurde. Die Foto-Serie untersucht insbesondere die Transformation der Verbindung vom Baukörper und Stadtraum. Erkundet wird die Erdgeschosszone mit ihren öffentlichen Zugängen: Vom östlichen Haupteingang, der Passage zwischen Augustusplatz und Innenhof, sowie den beiden Eingängen zum Foyer auf der Hofseite. Mit der Gestaltung einer dieser Eingänge wurde das Schinkeltor integriert, ein historisches Fragment des klassizistischen Augusteums. Das früher großzügig geöffnete Erdgeschoss ist deutlich verändert. Eine Vermittlung zwischen Augustusplatz, Universitätsfoyer und Innenhof findet kaum mehr statt und die ursprüngliche fließende Verbindung zwischen städtischem und studentischem Leben ist deutlich eingeschränkt. An der platzseitigen Fassade ist der Haupteingang erst auf den zweiten Blick erkennbar und das Erdgeschoss erscheint nahezu hermetisch geschlossen.
// Helene Remler, Fotografie + Recherche