The Future of Cities. Not for Granted
Ausstellung und Symposium zu Stadt, Architektur und Gesellschaft in der HALLE 14 Leipziger Baumwollspinnerei, einem transformierten Ort kultureller Infrastruktur
Annette Menting
02.02.2022
Die Ausstellung und ihr Abschlusssymposium „The Future of Cities. Not for Granted“ sind Anlass zum Besuch der HALLE 14 auf der Leipziger Baumwollspinnerei, da die Themen auch unsere Forschungsinteressen betreffen. Die Ausstellung präsentiert provokative, widerständige und impulsgebende Kunst-Projekte an verschiedensten Orten, die durch Auswirkungen des Klimawandels und globaler Ungleichheit gefährdet sind. Die Symposiumsgäste bekommen beim Rundgang mit dem Kurator Michael Arzt einen Einblick: Mit dem Projekt „This Is Not A Shirt. This Is A Playground“ (Beitrag Biennale Venedig, 2018) von Anna Heringer verbindet sich der Ansatz zur Revision der üblichen industrialisierten Massentextilproduktion, um somit tradierte Dorfstrukturen in Rudrapur (Bangladesch) und unabhängigere Lebensformen bewahren zu können. Kadir van Lohuizen widmet sich in seiner Fotografie-Serie „After us, the deluge“ den Spuren von Klimawandel mit ansteigendem Meeresspiegel und damit dem globalen Problem der vom Versinken bedrohten Küstenstädte von Bangladesch bis zu den Niederlanden. „Park Fiction“ (1994-2005) von Margit Czenki und Christoph Schäfer zeigt eine partizipative Form von Kunst im öffentlichen Raum, die in St. Pauli Hamburg aus der Initiative zum Erhalt der Hafenstraße entstanden ist. Auch die kollektiven Interventionen „Isola Project Milano“ und „Isola Utopia, San Mauro Cilento“ der von Bert Theis initiierten Kunst-Plattform Isola Art Center (2001-2016) verfolgen eine Verteidigung des öffentlichen Raums und spezifische, aus dem Stadtteil entwickelte Transformationen.
Ergänzend zur Ausstellung beschäftigte sich das Symposium mit der Zukunft der Städte und verbindet theoretische Betrachtungen zur Urbanität und Architektur, Kritik an globalen Stadt-Homogenisierungen wie in technologie-affirmativen Smart Cities sowie Fallbeispiele von partizipativen Verfahren, Urbane-Kunst-Praxis und Recht auf Stadt. Nach der Begrüßung durch Kim Wortelkamp, Vorsitzendem des HALLE 14 e.V., und dem Ausstellungsrundgang mit Michael Arzt, künstlerischem Leiter der HALLE 14, folgt der Eröffnungsvortrag des zweitägigen Symposiums.
Ines Weizmann (Architekturtheoretikerin, London) beschreibt ihre eigenen Erfahrungen von urbanen Transformationsprozessen ausgehend vom Symposiums-Ort, der Leipziger Baumwollspinnerei, die sie noch als Produktionsbetrieb kennenglernt hat und die nach der Stilllegung seit den frühen 1990er Jahren eine Neuprogrammierung erfahren hat. Von hier aus führt ihr assoziativer Vortrag zum nachwendezeitlichen Wandel Leipzigs mit einer kritischen Betrachtung der Prozessrezeption. Mit der Frage nach Materialität, in die Geschichte eingeschrieben ist und Archiven, in denen sich unterschiedlichste Dokumente, Medien, Objekte und Darstellungsformen verbinden, werden andere Narrative von Stadt und ihren Geschichten aufgezeigt; die Ansätze finden sich in ihrem „Center for Documentary Architecture“ (documentary-architecture.org). Damit verbinden sich nicht zuletzt auch zukünftige Strategien von Raumbildung.
Herausforderungen des Städtischen - Erster Themenblock
Unter dem Titel „Urbane Trauerarbeit aus Sorge um die Zukunft“ befragt Elke Krasny (Stadtforscherin und Kulturtheoretikerin, Wien) das Verständnis von Stadtgestaltung. Sie fächert den Begriff „Care“ ideell auf und fordert ein Umdenken in Architektur und Stadtentwicklung im Sinne von „Care“ - Pflegen, Schützen, Erhalten, Sich-Kümmern, Sorge tragen - für die Zukunft der planetarischen Lebensformen, den Verflechtungen von menschlicher Kultur und natürlichen Umwelten. Die Ausstellung und das Buch „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“ haben Elke Krasny und Angelika Fitz entwickelt. Auf die Frage nach der Produktivität von Trauerarbeit beschreibt sie das dringende Ins-Bewusstsein-Holen von Klimawandel und globalen kulturell-politischen Umwälzungen anstelle von weiterer Infrastrukturalisierung, um eine Veränderung der Planungspraxis zu erzielen. Ihre These: Die Zukunft muss kollektiv konzipiert sein oder sie wird nicht sein.
Angesichts der Innovationsentwicklungen fordert Stefan Sigrist (Wissenschaft-Praxis- Strategien) vom Think Tank W.I.R.E. [Web for Interdisciplinary Research & Expertise] Zürich (www.thewire.ch) eine Perspektivverschiebung, indem der Mensch in das Zentrum der Betrachtung rückt und nicht länger die Technologie an sich. Insofern bewertet er die weit verbreiteten Smart Cities-Konzepte kritisch, aufgrund unreflektierter Affirmation von Technologie. Echte Innovation und Zukunftsgestaltung stellt das Ziel eines sozialen Lebens ins Zentrum und untersucht adäquate Gestaltung in der Verbindung von Low Tech und Digitalisierung.
Andrej Holm (Sozialwissenschaftler, Berlin) widmet sich den Orten des Wohnens als elementare Räume der Stadt. Dabei steht in dem Beitrag das Verhandeln von Raum im Vordergrund, denn die Frage nach urbaner Vielfalt braucht auch Wohnungen für unterschiedlichste Gesellschaften. Das gemeinschaftliche Bauen und Wohnen wie in den historischen Gehag-Siedlungen Bruno Tauts in Berlin sei nach wie vor ein Ansatz, der zu reflektieren und ins Heute zu übertragen ist.
Leitbilder. Zukunft für die Stadt - Zweiter Themenblock
Einneues Verhältnis von Stadt und Land untersucht und moderiert Frederik Fischer (Medienwissenschaftler/Volkswirtschaftler, Berlin) in der Neulandia UG (neulandia.de), ausgehend von Digitalisierungsfolgen wie veränderten Lebensweisen und Raumfragen wie Lebens- und Arbeitsort. Angesichts sehr hoher Dichte in Großstädten bekommt die einwohnerarme Provinz eine veränderte Perspektive. Neulandia-Projekte nutzen auch digitale Tools für soziale Innovationen, in dem sie Vernetzung fördern und verantwortungsbewusste Communities bilden, die nicht temporäre Wochenendausflügler aufs Land bringen, sondern neue Bewohner:innen in die Dorfgemeinschaften.
Die Mitglieder Ivana Rohr (Künstlerin)und Benjamin Grudzinski (Architekt) vom interdisziplinären Planungsbüro Endboss Hannover beschreiben ihre bürointerne Arbeitsmethodik der Streitkultur als produktiv für neue Ideen- und Projektentwicklungen. Gegenüber Leitbildern sind sie skeptisch, denn es sei unklar, wer wen, warum und wohin leite. Zu ihren urbanen Interventionen verweisen sie auf die Website (endboss.eu).
Tatjana Schneider (Stadtforscherin und Architekturtheoretikerin, Braunschweig) erinnert an eine zentrale politische Frage des Soziologen Lucius Burckhardt „Wer plant die Planung?“ (1974) und an seine Urbanismuskritik seit den 1970er-Jahren. Ihre eigene stadterforschende Arbeit setzt hier an, betrachtet kritisch die gegenwärtige Lehre und Praxis der Architektur und verfolgt partizipative, gemeinwohl-orientierte Planungs- und Raummodelle. Um die gesellschaftlichen Fragen zu adressieren, müssen die Grenzen der Architektur bewusst sein und interdisziplinäre Arbeit sowie Verbindungen zur Politik verfolgt werden, um Städte verändern zu können. Ihre These: Die Verquickung von kapitalistischen Strukturen und Stadtentwicklungen müssen aufgelöst werden im Sinne des Leitbildes einer sozialen Stadt.
Prozesse. Methodische Aspekte und Instrumente - Dritter Themenblock
Seit den 1980er-Jahren beschäftigt sich Klaus Selle (Stadtforscher und Planungstheoretiker, Schwerte) mit Beteiligungsprozessen in der Stadtentwicklung und hinterfragt die vermeintliche Polariät von Stadt und Bürger. Den Faktor Zeit und die Trägheit bei Stadtentwicklungsprozessen beschreibt er als ambivalentes Phänomen urbaner Prozesse. Auch Mitwirkung sei aufwendig und effizient zugleich, denn nur durch sie könne komplexe Stadtentwicklung entstehen. Repräsentative und partizipative Demokratien beschreibt Selle als Voraussetzung, insofern sind die aktuellen Beobachtungen zum fehlenden Vertrauen der Menschen in die (Stadtentwicklungs-)Politik eine dringende Herausforderung. Auf die Frage nach den Potenzialen von Digitalisieurng und Partizipationsprozessen benennt er den unmittelbaren Austausch als wichtige vertrauensbildende Verfahrensweise für eine qualitative Partizipation.
Margit Czenki und Christopf Schäfer (Künstler:innen,Hamburg) beschreiben das Projekt „Knack den St. Pauli Code“ der Planbude (planbude.de), das ein spezifisches Beteiligungs-Fallbeispiel ist und vor dem Hintergrund des Park Fiction-Projektes in Hamburg (1994-2005, s. a. Ausstellungsbeitrag) entstand. 2020 entwickelte sich aus den Protesten gegen den Abbruch der Esso-Häuser in St. Pauli die Planbude als Vertretung der Protestierenden, um die Interessen gegenüber den Investoren und der Stadt zu behaupten. Mit ihrem Verfahren der Wunschproduktion verfolgten sie nicht die üblichen Befragungen, sondern eine Produktion neuer Ideen und Stadtvorstellungen. Dies kumulierte in einem Ergebnispapier, das mit Investoren und Stadt verhandelt wurde und unmittelbar in ein Wettbewerbsverfahren einfloss, so dass sich St. Pauli-Wünsche in den prämierten Wettbewerbsarbeiten von NL Architects (Amsterdam) und BEL Architekten (Köln) wiederfinden.
Larisa Tsvetkova (Architektin, Braunschweig) vertrat das Netzwerk der ImmoVielen, das den üblichen Stadtverwertungsstrategien ein Netzwerk entgegenstellt, nicht um eine Beteiligung zu erwarten, sondern gemeinsam Selbst-zu-machen. Sie zeigte Fallbeispiel von Utopia Stadt Wuppertal über Leipziger Vereine wie Haushalten, Haus und Wagen Rat und Mietshaussyndikat bis zu Baugruppen in der Berlin-Neuköllner Oderbergstraße von BAR Architekten.
In abschließenden Workshops wurden die drei Themenblöcke und die Thesen für die Zukunft der Städte diskutiert. Als Symposiumsgäste geht unser Dank an das Team der HALLE 14 und ihren Freund:innen für Konzeption und Organisation dieses inspirierenden und engagierten Symposiums, das trotz Pandemiebedingungen hybrid in Präsenz und digitaler Form zum Abschluss der Ausstellung „The Future of Cities. Not for granted“ stattfinden konnte.
HALLE 14 LEIPZIGER BAUMWOLLSPINNEREI
ist als ein Ort kultureller Infrastruktur aus urbanen Transformationsprozessen entstanden. Das Spinnereigelände entwickelte sich über 100 Jahre zu einem Produktionsbetrieb, der 1990 stillgelegt wurde und in den Folgejahren von Künstler:innen und Kreativen für die Nutzung von Galerien, Ateliers, Werkstätten neugedacht und umprogrammiert wurde. Mit dem Kauf des Areals 2001 begannen die Investoren mit Maßnahmen baulich-räumlicher Aktivierung und Kulturmanagement, um eine nachhaltige Nutzung als urbaner Kunstort zu verfolgen. Eine Besonderheit des Prozesses war die zwar gesteuerte, allerdings ohne Masterplan und sukzessive erfolgte Entwicklung des Areals. Vor diesem Hintergrund entstand 2002 die HALLE 14 als Zentrum für zeitgenössische Kunst, initiiert von der Stiftung Federkiel und seit 2005 geführt von dem gemeinnützigen Verein HALLE 14. Sie präsentiert seither künstlerische Arbeiten und verhandelt Kontexte von Kunst, Stadt, Architektur und Gesellschaft. Die denkmalgeschützte Industriehalle wurde von quartier vier Planungsbüro 2007-2012 sukzessive umgebaut. Bereits zur Eröffnung der (noch unsanierten) HALLE 14 befragte 2002 ein internationales Symposium „Wie Architektur sozial denken kann“ und beschäftigte sich mit dem zentralen Thema des Ortes, der Revitalisierung von Industriedenkmälern mittels Kunst und Kultur. Auch in Kunstausstellungen wurden die Bedingungen und Geschichten des Ortes thematisiert. „How to survive?“ folgte 2010 als Symposium zu Urbanität und Konversion in Vernetzung von ost- und westeuropäischen Beispielen: Venedig, Ljubljana, Krakau, Nürnberg und Leipzig, im Kontext der Initiative Second Chance. Die HALLE 14 ist somit ein Ort der Urbanen Praxis, an dem auch urbanes Wissen vernetzt wird.
Das Kunstzentrum HALLE 14 und die Baumwollspinnerei sind Fallbeispiele des Urban Resets und somit Gegenstand des zweiten Teils unseres DFG-Forschungsprojektes „Architektur und Raum für die Aufführungskünste: Häuser und Orte künstlerisch-kultureller Mischnutzungen - Zugänglichkeit, Programmierung und erweiterte Szenografien“.
Websites: www.halle14.org und www.spinnerei.de