Kampnagel - Eine fotografische Erkundung
Nadine Kesting Jiménez (Text und Fotografien)
10.12.2021
„Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun was mag sich in mir wohl zugetragen haben?“ (Benjamin, 1991) Um Räume zu begreifen, müssen sie begangen werden. Nur so wird die räumliche Dimension gedankliche erfasst und rekonstruiert. Sich in Räumen zu bewegen, regt die Vorstellungskraft an und eröffnet Fragen.
Blick auf Kampnagel über den Osterbekkanal
Wir schlendern auf der südlichen Seite durch einen schmalen Park den Osterbekkanal entlang. Die gegenüberliegende Seite ist dicht bebaut mit Büroblöcken, die bis ans Ufer ragen. Der Freiraum zwischen ihnen zeigt flüchtig, was sich dahinter befindet: Kampnagel – internationales Zentrum für schönere Künste, eine Kulturinsel auf 12.000 Quadratmetern.
Blick auf Kampnagel und die Wageburg über den Osterbekkanal
Das urbane Ufer wandelt sich, karge Laubbäume zeigen eine Wagenburg. Kontrastierend zu der schlichten Blockrandbebauung zeigt sich das Kampnagel-Areal mit seinen irregulären Entwicklungen von Industriebauten, Wohnwagen; Gartenlauben und dem alten blauen Kran, der über den Kanal ragt.
Blick in den Johannes-Prassek-Park
Hier stand einst das Gaswerk Barmbek, welches zwischen 1874 und 1876 erbaut wurde, parallel zur Errichtung der Fabrikhalle des Eisenwerks Nagel & Kaemp. Durch die industrielle Ansiedlung waren Barmbek und Winterhude schon bald dichtbevölkerte Wohngebiete und wurden Ende des 19. Jahrhundert zu Hamburger Stadtteilen. Das Gaswerk wurde nach 84 Jahren Betrieb geschlossen und abgebrochen. Einige Jahrzehnte verstrichen bis die Entwicklung des Geländes zum Shoppingcenter und Bürokomplex Alster City in den 1990er-Jahren vollzogen war.
Fußgängerbrücke über den Osterbekkanal Richtung Jarrestadt
Der urbane Park führt zu einer Fußgängerbrücke (2013 errichtet) über den Osterbekkanal. Die lange Achse mündet direkt in der Jarrestadt, eine Ende der 1920er-Jahre erbaute Wohnsiedlung mit einheitlichen Klinkerfassaden. Das städtebauliche Gesamtkonzept wurde unter der Leitung des damaligen Oberbaudirektors Fritz Schumacher umgesetzt. Die Wohnungsbaureform fand hier ihre Realisierung als Zweispänner-Erschließung für 50-60 qm große zweieinhalb Zimmerwohnungen mit Küche, Bad und fließend warmen Wasser.
Migrantpolitan auf dem Kampnagel-Areal
Wir überqueren den Kanal, biegen ab und folgen dem Weg bis wir vor einem gelben Schild zum Halten kommen – hier betreten wir Kampnagel. Wir stehen vor dem instandgesetzten Migrantpolitan, das von der Künstlergruppe Baltic Raw Org entworfen wurde, als Community Culture Center dient und vielseitig von migrantischen Künstler:innen und Kunstkollektiven bespielt wird.
Avant-Garten auf dem Kampnagel-Areal
Eine Discokugel hängt im Freien, Sitzgelegenheit sind mit Laub bedeckt, eine Feuertonne, leere Flaschen hier und da und unzählige karge Pflanzkästen. Der Avant-Garten ist in diesen Dezembertagen verlassen, doch viele Hinweise lassen erahnen wie er in den warmen Monaten mit Performances, Workshops und Partys belebt wird und er hunderte Gäste als Zentrum des Sommerfestivals aufnimmt.
Südöstliche Fassade der Kampnagel-Halle
Die ca. 160 Meter lange Fassade auf der Rückseite zeigt die Dimensionen der Kampnagel-Hallen. Vom Kanal durch Abstellflächen für Container und Fahrzeuge getrennt, wirkt die Fabrik eher verschlossen.
Wegeleitsystem und Verwaltungsgebäude Kampnagel
Hinter Bürogebäuden an der Jarrestraße befindet sich das Verwaltungsgebäude von Kampnagel. Ein reges Treiben von Mitarbeitenden, die zwischen Verwaltung, Werkstätten und Bühnen hin und her laufen, hier und dort stehen sie rauchend beieinander.
Blick auf das Kampnagel-Areal von der Jarrestraße
Kampnagel ist Deutschlands größte freie Spiel- und Produktionsstätte. Hier werden Lebensrealitäten in künstlerischen Produktionen thematisiert und auf die Bühne gebracht. Kampnagel ist ein Ort der Diversität, an dem die Stimmen von Minderheiten hörbar gemacht werden und Dialog Raum findet. In dieser Fabrik werden gesellschaftsrelevante Themen in einem offenen Prozess immer wieder neu verhandelt.
Hauptzugang zum Kampnagel-Areal von der Barmbeker Straße
Die Hallen und das Areal von Kampnagel befinden sich in einem Prozess der Veränderung. Ende 2019 gab die Stadt Hamburg die Modernisierung und Weiterentwicklung von Kampnagel bekannt. Aufbauend auf einer Konzeptstudie des Architekturbüros Lacaton & Vassal fand im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens für die planerische Leistung eine europaweite Ausschreibung statt; die Entscheidung steht noch aus. Wie werden die Herausforderungen des architektonischen Freilegens, der Öffnung und Zugänglichkeiten von Räumen sowie einzelne Ergänzungen bewältigt?
Im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“ ist für 2022 eine Publikation zur Fallstudie Kampnagel Hamburg geplant.
Sämtliche Abbildungen: © theaterraum . Menting, Fototgrafie: Nadine Kesting Jiménez
Literatur:
Benjamin, Walter. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Surkamp Verlag 1991, Seite: 527
Websites:
www.kampnagel.de
www.multimedia-essay.kampnagel.de
„The Sun Machine Is Coming Down“ Kunstfestival im ICC Berlin 2021
Nadine Kesting Jiménez
03.11.2021
Es ist eine einzigartige Möglichkeit dieses prägende Bauwerk in seiner Gesamtheit zu erleben. Seit sieben Jahren war das Internationale Congress Centrum Berlin nicht mehr zugänglich für die Öffentlichkeit, der introvertierte Gigant schlummert vor sich hin und begegnet uns nur kurz im Vorbeifahren an der A115. Inzwischen steht das ICC seit 2019 unter Denkmalschutz und es wird die Debatte geführt, es wieder als Kongresszentrum zu nutzen. Einen flüchtigen Moment lang, für zehn Tage wird in diesem Herbst hier das 70. Jubiläum der Berliner Festspiele gefeiert mit dem Festival „The Sun Maschine Is Coming Down“, einem Zitat aus dem Song Memory Of A Free Festival von David Bowie. Aufgrund der aktuell laufenden Sanierung des Festspielhauses an der Schaperstraße wird das ICC als außergewöhnliche Interimsspielstätte genutzt für ein Festival das unterschiedlichste Formate von Screenings, Performances und Musik bis zu Kunstinstallationen zeigt.
Der Slot ist gebucht, für dreieinhalb Stunden steht uns das ICC offen. Der eigenwillige Baukörper wird mit einer Lichtinstallation inszeniert, die als Sonnenaufgang anmutet und das gebäudebreite Schriftbanner zeigt, dass wir hier richtig sind. Der Einlass erfolgt schnell: QR-Code scannen, Eintritt vorzeigen und noch ein Programmheft mitnehmen. Ein riesiges Foyer eröffnet sich und das Wegleitsystem von Frank Oehring leuchtet. Wir schauen ins Programm, um uns dann doch treiben zu lassen. Die Vitrinen sind neu gestaltet mit Arbeiten von Makus Selg, sie leiten uns zu der großen Treppe in der Tiefe des Raums. Eine Ebene weiter oben begegnen wir einer bunten Vegetation, einer Installation von Ayaka Nakama und dem Bureau der Floating University Berlin. Wir wollen weiter in die verschiedenen Säle und keine Performance verpassen. Also weiter hoch, zur Julia Stoschek Colletion im gewaltigen Saal 1. Wieder hinunter, einen kurzen Abstecher in Saal 7 mit Projektionen von Grace Tjang. Gleich daneben, der markante runde Saal 6 in dem Vortragsausschnitte von Friedrich Kittler projiziert werden. Vor Saal 4/5 steht eine lange Schlange: Ein heller ruhiger Raum in dem gepolsterte Sitzbänke ungleichmäßig verteilt sind – hier fesselt die Performance von Tino Sehgal -, wir sitzen und lauschen und wollen nicht mehr gehen. Aber die Zeit rennt uns davon, Saal 2 wollen wir uns noch anschauen, der durch die abgesenkte Decke geteilt ist, so dass im vorderen Teil ein Auditorium und im hinteren eine freie Fläche entsteht, wo die Performance von Chloé Moglia stattfindet. Einen letzten Blick auf das Screening in Saal 3 mit Filmen zu 70 Jahren Berliner Festspiele. Unsere Zeit im ICC ist abgelaufen. Längst haben wir nicht alles gesehen, aber wir nehmen vielfältige Eindrücke von dem Festival in dieser außergewöhnlichen Interimsspielstätte mit.
Wir bewegen uns zum Ausgang, vorbei an der Tür mit den bunten Stickern, die Besucher:innen und Timeslot zuordnen. Auf dem Vorplatz angekommen, ein Blick zurück zum Raumschiff – in der Abenddämmerung wirkt die Lichtinstallation an der Fassade noch intensiver. Es scheint als ob jemand den On-Button des Gebäudes gefunden und einfach mal drauf gedrückt hat. Viele Gedanken und Frage zu dem Gesehenen und Erlebtem füllen unsere Köpfe. In jedem Fall konnten wir mit „The Sun Maschine Is Coming Down“ die Raumpotenziale der verschiedenen Säle und weitläufigen Foyers im ICC erkunden, erleben und haben einen neuen Zugang bekommen.
Spielort (Raum/Bautyp)Bautyp: Kulturfabrik Kampnagel im umgenutzten Industriebau und auf dem Areal
Adresse: Jarrestraße 20, 22303 Hamburg
Baujahr: 1875 als Eisenwerk Kamp & Nagel / 1982 Umnutzung als Interimsspielstätte für das Deutsche Schauspielhaus / seit 1984 Kulturfabrik Kampnagel / 1998 Umbau und Sanierung der Hallen
Installation/Entwurf: Verschiedene Architekt:innen
Aufführung/Nutzungszeitraum: seit 1982/1984
Platzanzahl: 180 Plätze in Halle K1, 420 Plätze in Halle K2, 190 Plätze Halle P1, 800 Plätze Halle K6, und weitere Plätze in den Hallen K3, KMH und K4 und Foyers
Bühne: verschiedene Anordnungen der Bühnen in den Hallen
Spielort (Raum/Bautyp): temporärer Spielort im leerstehenden Bestandsbau Internationales Congress Center Berlin
Adresse: Messedamm 22, 14057 Berlin
Baujahr: 1979 / Leerstand seit 2014 / Neunutzung in der Debatte
Installation/Entwurf: Thomas Oberender, Berliner Festspiele und Künstler:innen
Aufführung/Nutzungszeitraum: The Sun Machine Is Coming Down, Festival anlässlich des 70. Jubiläums der Festspiele / 07. – 17.10.2021
Projektkosten/Baukosten: keine Angaben
Finanzierung: Programmreihe Immersion gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
Konstruktion: Installationen im Bestand
Platzanzahl: 20 bis 3000 Plätze (Saal 2) und 5000 Plätze (Saal 1), weitere Plätze in den Foyers
Bühne: verschiedene Räume und Säle im ICC
Künstler:innen: Monira Al Qadiri & Raed Yassin, Arachnophilia & Studio Tomás Saraceno, Ed Atkins, Grace Ellen Barkey / Needcompany, Dara Birnbaum, Jonas Brinker, Rainer Werner Fassbinder, Cao Fei, Floating University Berlin, Cyprien Gaillard, Barbara Hammer, Arthur Jafa, Richard Janssen, Ilya Khrzhanovsky & Ilya Permiakov, Scott King, John Carroll Kirby, Lawrence, Gordon Matta-Clark, Darragh McLoughlin, Chloé Moglia, Jörg Müller, Ayaka Nakama, Nalan, Nazanin Noori, Frank Oehring, Ulrike Ottinger, Khien Phuc, James Richards & Leslie Thornton, Rosaceae & Natascha P., Rachel Rose, Andrea Salustri, Tino Sehgal, Markus Selg, Joulia Strauss, Alexis Taylor, Tegel Media, Unguarded, Alexander Vantournhout / not standing, WangShui, The White Screen u. v. a.
Rezeption:
Harbusch, Gregor. „Das Raumschiff bleibt ein Raumschiff. Denkmalschutz für das ICC in Berlin“ 4. September 2019. https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Denkmalschutz_fuer_das_ICC_in_Berlin_6991990.html, 26.10.2021
Landesdenkmalamt Berlin. „Jung, aber Denkmal: ICC Berlin“. 9. Dezember 2020.https://www.youtube.com/watch?v=N5D_CtgJxBY, 12.10.2021
Hauenstein, Hanno. „Heute zum letzten Mal: „The Sun Machine Is Coming Down“ im ICC“. 8. Oktober 2021. https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/sonnenmaschine-im-senkflug-kunst-im-icc-messegelaende-li.187646, 20.10.2021
Timm, Tobias. „Einsteigen, losfliegen“. 9. Oktober 2021. https://www.zeit.de/kultur/kunst/2021-10/icc-berlin-gebaeude-internationales-congress-centrum, 20.10.2021
Scheder, Beate. „Alles schreit nach Aufmerksamkeit“. 12. Oktober 2021. https://taz.de/Archiv-Suche/!5804397&s=the%2Bsun%2Bmachine%2Bis%2Bcoming%2Bdown&SuchRahmen=Print/ 20.10.2021