Bewegliche Architekturen – Architektur und Bewegung
Herausgegeben von Barbara Büscher und Annette Menting im DFG-Forschungsprojekt „Architektur und Raum für die Aufführungskünste“
Online-Journal MAP#10 media - archive – performance, www.perfomap.de 2019
Mit dem Begriff „bewegliche Architekturen" verbinden wir in dieser Ausgabe ein grundlegendes Nachdenken über Räume / Häuser / Orte für aktuelle Experimente in den (Aufführungs)Künsten. Architektur und Bewegung lässt sich in vielfacher Weise ins Verhältnis zueinander setzen und berührt dabei die Aspekte von Bewegung als Basis räumlicher Organisation, von Raumwahrnehmung und -erleben, von Bewegung und Transformation als Motive architektonisch-räumlicher Konzeption und die Verbindung von Bewegung und Beweglichkeit mit strukturellen und institutionellen Veränderungen. Bewegliche Architekturen provozieren prozesshafte Gebrauchsweisen, die Nutzer*innen zur Aneignung von Räumen und Orten auffordern. Wir beobachten, dass – aus verschiedenen Künsten kommend – performative Präsentationsformate zunehmend Räume und Orte bespielen (wollen), die nicht mehr den Häusern der traditionell getrennten Künste des Aufführens und Ausstellens entsprechen, und so gewinnt der Aspekt der Bewegung und Beweglichkeit von Architektur an Bedeutung. Insofern bildet das Thema der zehnten Ausgabe von MAP einen reflexiven Rahmen für die transdisziplinär zu stellende Frage nach den Parametern von Architekturen für die Aufführungskünste.
In vier Abschnitten beschäftigen sich die Autor*innen dieser Ausgabe mit verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Architektur und Bewegung und konturieren die Möglichkeiten beweglicher Architekturen aus der Sicht von Theaterwissenschaft und Performance Studies, von Architekturtheorie und -geschichte sowie von Architekt*innen, Designer*innen und Künstler*innen.
Dynamisierung von Räumen und Orten ist der erste Abschnitt überschrieben und demonstriert oder analysiert verschiedene Formen der künstlerischen Aktivierung von Räumen und Territorien. Christina Thurner zeigt an drei zeitgenössischen Choreografien, wie der Tanz den Raum, die Architektur, die Spezifität eines Ortes, der durch anderweitige Nutzung geprägt ist, durch Bewegung aneignet und überschreibt. Die Bewegung zeigt sich als und im Prozess, temporär und unabgeschlossen. Schon mit dem mäandernden Titel verweist der Szenograf und Bühnenbildner Demian Wohler auf die sich in ständiger Transformation befindenden Räume von und für Aufführungen aller Art. Und er eröffnet ein Spektrum von Assoziationsfeldern, aus dem sie entstehen können. Das 2005 eröffnete Gebäude der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, entworfen und geplant von as-if berlinwien, basiert auf der konzeptionellen Idee, das Gebäude performativ zu denken und damit ein Ineinander von architektonischen und kuratorischen Positionen und Praktiken zu ermöglichen und zu zeigen. Christian Teckert, am Entwurf beteiligter Architekt, erläutert diesen Prozess. Die am Haus tätige Kuratorin Julia Schäfer demonstriert die Nutzung und deren eingebaute Vielfalt anhand des experimentellen Ausstellungsprojektes Puzzle, für das sie eine dynamische und kooperative Form des Kuratierens erfunden hat. Kuratorische Überlegungen, die über definierte Kunsträume hinaus in ein recht weites, aber konkret definiertes Territorium reichen, nämlich das Ruhrgebiet, diskutiert Britta Peters, die Leiterin von "Urbane Künste Ruhr", mit dem Dramaturgen Dirk Baumann. Die kuratorische und künstlerische Bespielung eines Territoriums, das von sehr unterschiedlichen kulturellen Milieus geprägt ist, öffnet den Blick für die Diversität der Akteur*innen, der Besucher*innen und nutzt sehr verschiedene ‚found spaces', die ihre eigenen Geschichten mitbringen.
Der zweite Abschnitt Mobilität und Bewegung als Kontexte von Bauen und Aufführen widmet sich in mehreren Beiträgen den in Bewegung geratenen Architekturen und sich verändernden raumbildenden Praktiken der Aufführungskünste. Annette Menting stellt in einem Überblick wichtige Etappen eines seit den 1960er-Jahren entstehenden Diskurses über Bewegung und Architektur dar, konzentriert im Wesentlichen auf Bauten für die Aufführungskünste sowie auf damit in Zusammenhang stehende Typologien und Gebrauchsformen. Dass Theater jenseits der festen Häuser neuerlich verschiedene Praktiken der Raumbildung in Bewegung entwickelt oder sich wieder angeeignet hat, erläutert Verena E. Eitel an Beispielen aus der jüngeren Geschichte von Volksbühne Berlin, HAU, Düsseldorfer Schauspielhaus und Theater der Welt. Das Überschreiten der Schwelle des Hauses und der Institution handelt zugleich vom Versuch, offenere Situationen für ein erweitertes Publikum zu schaffen. Eines der diskutierten Projekte ist The World Is Not Fair – Die Große Weltausstellung 2012, zu dem wir ein Gespräch wieder abdrucken, das die konzeptionellen Überlegungen dieses performativen Ausstellungsparcours ins Gedächtnis ruft. Die Kuratorin und Theaterproduzentin Amelie Deuflhard erläutert in ihrem Text, welche Stationen, Konzeptionen und Experimente sie in unterschiedlichen Häusern und Orten der freien Szene Berlins und Hamburgs erprobt hat, um der Idee eines offenen Ortes für künstlerische, kulturelle und politische Aneignungen näher zu kommen und solche Transformationen zu initiieren.
Von diesen historischen und aktuellen Praktiken der Raumbildung sowie der Untersuchung der sie umgreifenden Diskurse führt eine Frage zur Relevanz von Modellen für zukünftige Projekte, die architektonisch den sich verändernden Raumpraktiken verschiedener Aufführungsformate Rechnung tragen könnten.
Modellieren und Entwerfen als / im Prozess, der dritte Abschnitt dieser Ausgabe, greift diese Frage aus unterschiedlicher Richtung auf und versucht, Antworten einzukreisen. Carolin Höfler entfaltet den aktuellen Diskurs um verschiedene Modell-Begriffe und deren Reichweite für eine an Prozesshaftigkeit und produktiver Unbestimmtheit interessierte Wissenschaft und Entwurfspraxis. Barbara Büscher schließt daran an und thematisiert an verschiedenen, aus unterschiedlichen historischen Konstellationen stammenden Projekten und Praktiken, die methodischen und konzeptionellen Ideen einer offenen Architektur für kulturelle Aufführungen und Aktivitäten aller Art und deren Fundierung in einer radikal verstandenen Nutzer*innen-Perspektive. Werner Ruhnau, Architekt und einer der Protagonisten beweglicher Theaterarchitektur innerhalb der westdeutschen Debatte seit den 1950er-Jahren, und seine Spielraumkonzeptionen sind Gegenstand des Beitrags von Jan Lazardzig. Er liest sie und ihre Realisierung in der Spielstraße des Kulturprogramms der Olympischen Spiele 1972 als Zeichen einer anti-totalitären Moderne. Als Modell verstanden wurde auch der Bautyp Kulturzentrum, der in der DDR als Projektierung multifunktionaler Aufführungsräume entwickelt wurde. Juliane Richter verfolgt die Planungs- und Baugeschichte der Chemnitzer Stadthalle als exemplarischen Vorgang und zeigt den Kontext der innovativen Raumlösungen, die hier etabliert wurden.
Den letzten Abschnitt unter dem Titel Aneignung von Orten und Bauten durch Transformation eröffnet ein künstlerischer Beitrag der Fotografin Annette Kisling, die sich in 15 für diese Ausgabe ausgewählten Aufnahmen dem von Fritz Bornemann in den frühen 1960er-Jahren errichteten Theater an der Schaperstraße in Berlin aneignet. Ihre Bewegung um und durch das Theaterhaus zeigt seine Offenheit im Innern, den Übergang nach Außen und seine Präsenz im landschaftlich geprägten Stadtraum. Mit Bewegung und Transformation in einem ganz anderen Sinne beschäftigen sich Jan Lemitz und Kathrin Tiedemann in ihrem Beitrag: Sie nehmen den geplanten Umzug des Forum Freien Theaters an einen neuen Standort in Düsseldorf zum Anlass, über die Prinzipien von Stadtplanung, die das Gemeinwohl aus den Augen verliert, nachzudenken. Andreas Wolf untersucht als instante Architekturen Projekte einer jüngeren Architekt*innen-Generation, die auf der Idee einer Raumerweiterung und -aneignung durch Selbstgestaltung beruhen und oft als temporäre Installationen realisiert wurden. Eine historische Kontextualisierung des Themas eröffnet Hans-Rudolf Meier mit der Darstellung von Spolien als bewegten Architekturelementen, erkennbar wiederverwendeten Baugliedern aus früheren Bauten oder von anderen Orten, die als eine Form der Aneignung sowohl Referenzen auf historische Konstellationen herstellen wie sie Orte symbolisch verbinden können. Zum Schluss stellen Lukasz Lendzinski und Peter Weigand, die 2008 studio umschichten gründeten, eine Reihe von Projekten aus ihrer Arbeit vor, die sich an der Schnittstelle von Architektur, Kunst und Stadtentwicklung bewegen. Dabei verweisen sie auf Fragen des Materialkreislaufs, das Prinzip des Temporären und machen Aspekte ihres Planungsprozesses sichtbar.
Diese Ausgabe basiert auf den Beiträgen der Tagung Bewegliche Architekturen - Architektur und Bewegung, die im Januar 2018 an drei verschiedenen Orten in Leipzig stattfand. Sie wurden um weitere Texte ergänzt. Die Tagung fand im Rahmen des transdisziplinären Forschungsprojekts Architektur und Raum für die Aufführungskünste. Entwicklungen seit den 1960er Jahren statt.
Die Herausgeber*innen danken allen Autor*innen für Ihre großzügige Mitarbeit. Kommentare und Anregungen sind uns jederzeit willkommen.
Barbara Büscher und Annette Menting
Redaktion MAP #10 Ausgabe: Barbara Büscher, Franz Anton Cramer, René Damm, Verena Elisabet Eitel, Elisabeth Heymer, Annette Menting, Lucie Ortmann, Juliane Richter
im Oktober 2019
ISSN 2191-0901